Atemschaukel von Herta Müller – Wie viel Poesie verträgt ein Arbeitslager?

Atemschaukel war mein erster Kontakt mit dem Werk der Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009. Die Idee Hunger, Monotonie und Stumpfheit eines Arbeitslagers mit poetischen Mitteln darzustellen schien mir zumindest reizvoll. Müller leistet da auch wirklich außergewöhnliches. Sie beschreibt den Hungerengel, der den jungen deutschen Ich-Erzähler Romans durch fünf Jahre in einem sowjet-ukrainischen Lager begleitet, in allen Facetten. Auch dem Zement, der Kohle, der Schlacke und dem Sand widmet sie sich mit eindringlicher Bildsprache. Die wenigen Elemente des trostlosen Lagerlebens als Rohstoff einer Gedankenwelt, die sich nur noch vage an die Vergangenheit erinnert und die Zukunft nicht zu denken wagt. In dem Buch gibt es große sprachliche Momente und intensiv reflektierte kleine Situationen aus dem Lageralltag. Eine solche ist die befohlene kollektive Darmentleerung bei klirrender Kälte. Dieses Sinnbild der totalen Entwürdigung der Häftlinge am Beginn des Romanes ist von einer sprachlichen Intensität, die ihresgleichen sucht. Gleichzeitig stellt die Szene auch den Übertritt des jungen Mannes in die Erwachsenenwelt dar, jedenfalls stellt er fest: „Vielleicht wurde in der Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen.“ An vielen Stellen trägt Müller aber etwas zu dick auf. Bei einer der langatmigen Beschreibungen der Arbeitsmaterialien im Lage schreibt sie über Schlacke: „In verstreuten Flecken färbte sich das Weiße rosa, oft so stark, dass es grau wurde am Rand. Ich weiß nicht, warum Rosa ins Graue gealtert so besitzergreifend schön ist, nicht mehr mineralisch, sondern traurigmüde wie Menschen.“ Bei solchen Sätzen wird klar, dass hier nicht ein junger Lagerarbeiter spricht, sondern eine routinierte Schriftstellerin. Auch wenn Müller als Ausgangsmaterial die Berichte des Zeitzeugen und Lyrikers Oskar Pastior verwendet hat, für mich ist das Buch keine Aufarbeitung einer zeitgeschichtlichen Epoche. Viel eher dienen die historischen Fakten als Hintergrund für Müllers Sprachkunst. Und die erdrückt leider die Geschichte der handelnden Personen an manchen Stellen. Über die Situation der Deutschen in Siebenbürgen und ihre Verschleppung in die Arbeitslager der Sowjets nach Ende des 2. Weltkriegs habe ich jedenfalls nicht viel gelernt.

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