Er. (Versuch eines Abschieds)

Ich habe ihn kaum gekannt. Er hat mir nie auch nur ein Detail aus seinem Leben selbst erzählt. Reden war nicht seine große Stärke. In groben Zügen kenne ich seine Geschichte von der Mutter meiner Freundin. Dass das keine schöne Geschichte gewesen sein kann, war ihm anzusehen.  Das hat man auch gespürt, wenn man neben ihm saß. Einmal ist er länger neben mir gesessen. Das war, als wir versucht haben, seine Schallplatten zu verkaufen. Wir haben sie ins Auto gepackt und sind damit zu einem Händler gefahren, von dem ich weiß, dass er niemanden über’s Ohr haut.
Das einzig Kraftvolle an ihm waren seine Hände. Richtige Arbeiterhände, denen man ansah, dass er früher mal zupacken konnte.  Ansonsten war nicht mehr viel von ihm übrig. Er wog vielleicht 40 Kilo, seine Augen lagen tief in den Höhlen und seine Gesichtszüge waren wie versteinert.
Die Schallplatten waren sein kleinstes Problem. Ich muss aber davon erzählen, weil ich ihn eigentlich nur deswegen kennengelernt habe und weil sie – für mich – eine Erklärung liefern, wie er gedacht hat. Er brauchte Geld. Die Mutter meiner Freundin weiß, dass ich mit Musik einigermaßen auskenne. Vielleicht wäre ja was in seiner Sammlung, das mich interessiert. So war’s dann auch. Ich hatte mir einen kleinen Stapel ausgesucht und ihm eine viel zu hohe Summe dafür angeboten. Das war ihm aber zu wenig. An den zerkratzten Vinylscheiben und den abgegriffenen Covers hingen zu viele Erinnerungen. Die konnte und wollte er für diesen Betrag nicht aufgeben. Also bot ich ihm an, mit ihm und den Plattenkisten zu einem Händler zu fahren und den mal einen Preis nennen zu lassen. Er sollte wissen, dass ich ihn nicht bescheißen will. Das Angebot des Händlers für die ganze Sammlung war in etwa so hoch wie der Preis, den ich für den kleinen Stapel geboten hatte. Also nahmen wir die Kisten wieder und brachten sie zurück. Er hat es sich nicht nehmen lassen mit anzupacken. Noch nie habe ich einen Menschen so um Luft ringen hören. (Und ich kenne einige Menschen mit schwerem Asthma.) Wir haben die Erinnerungen in seiner neuen Wohnung abgestellt.
Er hatte eine neue Wohnung, weil er sich die alte nicht mehr leisten konnte. In der alten hatte er mit seiner Freundin gelebt. Eine Frau, die um einige Jahre älter war als er. Eine Frau, die er über alles geliebt hatte. Als sie starb, ist die Welt für ihn endgültig zusammengebrochen. Die war ohnehin nicht sehr stabil für ihn, das Heimkind, den Mann, der sein Leben lang nur mit Schulden zu kämpfen hatte, der nach einem schweren Arbeitsunfall eine Zeit lang gelähmt gewesen war. Eine traurige Existenz. Sie hatte ihm Kraft gegeben, ihn für ein paar Jahre aus dem Sumpf geholt, der sein Leben war. Für sie und mit ihr hatte er diese Wohnung – im wahrsten Sinne des Wortes – „gebastelt“. Insgesamt hatten sie drei Wohnungen zu einer großen zusammengelegt und mit viel Liebe zum Detail alles Mögliche eingebaut. Unter anderem gab es dort ein Hochbett, auf das er sie in den letzten Monaten ihres Lebens tragen musste, weil sie zu schwach war, die Leiter raufzuklettern. Er, der selbst schon mal gelähmt gewesen war. Als er mir erzählte, dass das Bett „für die Ewigkeit“ gebaut hatte, blitzten seine Augen in den dunklen Höhlen. Das einzige Blitzen, an das ich mich bei ihm erinnern kann. Die Hochzeit kurz vor ihrem Tod sollte sicherstellen, dass er die Wohnung weiter behalten konnte, dass ihm zumindest die Erinnerungen blieben.
Nach ein paar Jahren ging auch das nicht mehr. Die Schulden waren erdrückend, das bisschen Sozialhilfe reichte nicht und er musste sich eine kleinere Wohnung suchen. Dort hatten aber nicht alle Erinnerungen Platz. Er musste versuchen, sie zu verkaufen. Das lief immer nach dem gleichen Schema ab wie bei den Schallplatten. Niemand wollte so viel bezahlen wie ihm seine Erinnerungen wert waren. Also packte er sie in vierzig Kartons und lagerte sie in einer Garage ein, für die jemand anderes die Miete bezahlte. Und zum Schluss riss er, der kaum noch Kraft hatte, das für die Ewigkeit gebaute Hochbett raus, hackte es kurz und klein und gab den Schlüssel zurück. Das war Ende September.
Anfang dieser Woche hat er mich angerufen. Die Mutter meiner Freundin ist gerade auf Urlaub. Er solle ihre Katzen füttern, hätte da eine Frage, erreiche sie aber nicht. Er klingt etwas verwirrt, aber ich denke mir nichts dabei. Das Problem mit den Katzen können wir lösen, doch er ruft weiter an. Ich bin gerade im Stress und verstehe auch nicht genau, was er will. Es scheint jedenfalls nicht dringend. Es tue ihm leid, dass er genervt habe, dass er glaube die Mutter seiner Freundin sei böse auf ihn. Er wolle doch nur alles richtig machen bei den Katzen und er könne mir gerne mal erzählen, was in seinem Leben alles schief gelaufen sei. Drei, vier Anrufe, die allesamt nicht sehr lange dauern. Ich sage ihm, dass wir uns bald mal treffen sollen, um das alles zu bequatschen. Er, der Wortkarge ruft weiter an und legt nach ein paar Sätzen auf. Wahrscheinlich auch, weil ihm beim Sprechen die Luft ausgeht. Ich hebe irgendwann nicht mehr ab und schreibe eine SMS: „Bin in der Arbeit. Melde mich am Nachmittag.“  Mir ist klar, dass er jemanden zum Reden braucht.
Am Nachmittag erreiche ich ihn. Er erzählt, dass er gerade auf einen Termin mit seiner alten Hausverwaltung wartet und nicht lange reden kann. Ich so: „Was ist da noch offen?“ Die Antwort: einigermaßen wirr. Also biete ich an mitzugehen. Er: „Ja, wäre gut, wenn ich einen Zeugen dabei hätte.“ Nach einigen Minuten: „Ich habe den Termin jetzt. Ich mache das allein. Ist eh schon egal.“ Legt auf. Ich versuche, ihn zu erreichen. Nichts. Ich schreibe eine SMS: „Ich komme. Sag mir, wann ich wo sein soll.“ Nichts. Eine Stunde später meldet er sich und bittet mich inständig, dass ich ihm Geld borgen soll. 200 Euro. Ich sage vorsichtshalber mal zu. Drei Minuten später ein weiterer Anruf: Jetzt will er 400 Euro. Ich zögere erst und sage wieder zu. Frage ihn, wo ich ihn treffen kann. Er will zu mir kommen. Kurz darauf ein weiterer Anruf. Sein Schwager habe ihm das Geld gebracht. Alles in Ordnung. Ich: „Komm doch trotzdem auf einen Kaffee vorbei.“ Er sagt zu. Kommt aber nicht. Ich versuche mehrfach, ihn zu erreichen. Er hebt nicht ab. Am Abend schreibe ich eine SMS: „Du wolltest vorbeikommen. Ich mach mir grad was zu essen. Ist genug für zwei da.“ Nichts.
Am Tag darauf – also gestern – versuche ich wieder ihn zu erreichen. Nichts. Am Nachmittag fahre ich zur Wohnung der Mutter meiner Freundin. Dort steht halbwegs frisches Katzenfutter. Entwarnung. Er füttert wenigstens die Katzen. Vielleicht ist ihm sein Auftritt von gestern mir gegenüber etwas peinlich. Trotzdem gehe ich zu dem Haus, in dem er wohnt. Auf den Türschildern ist sein Name nicht zu finden. Die Türnummer kenne ich nicht. Als jemand aus dem Haus kommt, nutze ich die Gelegenheit, selbst reinzukommen. Am Gang steht eine Polizistin. Erst fällt mir das Herz in die Hose, doch sie wirkt sehr entspannt und so gar nicht wie im Einsatz. Entwarnung. Ich will möglichst wenig Staub aufwirbeln und frage mal, ob sie hier zuhause sei und ob sie weiß, wo der Mann wohnt, dessen Familiennamen ich erst vorhin noch per SMS an meine Freundin erfragt habe. Sie kennt den Namen nicht. Also rufe ich ihn an und hoffe, dass ich gleich irgendwo hinter einer Tür ein Klingeln höre und dort anläuten kann. Nichts. Nichts. Kurz nach Mitternacht eine leere SMS von ihm. Da schlafe ich schon. Ich rufe ihn gleich in der Früh zurück. Nichts.
Heute zu Mittag erfahre ich, dass er sich das bisschen Leben, das noch in ihm gesteckt ist, genommen hat. Am Dienstag wollte er mir seine Geschichte selbst erzählen. Heute habe ich versucht, einen Teil davon niederzuschreiben ohne die Details zu kennen.

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