Hinterhofgeschichte

Ich gehe gerne in Hinterhöfe. Die verraten viel mehr über das Leben der Menschen, die in den Häusern leben und arbeiten, als herausgeputzte Fassaden. In Hinterhöfen entdecke ich immer wieder Artefakte, die mir Geschichten erzählen. Oder besser, die ich in meinem Kopf zu Geschichten zusammenfüge. Heute ist mir im 6. Wiener Gemeindebezirk eine Geschichte begegnet, die mich nachdenklich und verdammt wütend macht. Den Stoff zum Nachdenken bietet ein junger Mann, der derzeit in der Justizanstalt Gerasdorf „untergebracht“ ist.
Ein attraktiver Junger Mann mit dichten Augenbrauen und dunklen Augen. In der Strafvollzuganstalt leistet er „diverse Hilfsarbeiten“ in der Lehrküche. Ich kenne seinen Namen, weiß wie er aussieht und ich weiß auch, dass er vor Kurzem Ausgang gemäß § 126 StVG hatte. – Zum Zwecke der „Aufrechterhaltung persönl. Bindungen“. Die Zeit hat er bei einer Frau verbracht, die denselben Familiennamen wie er trägt, aber 40 Jahre älter ist. Ich nehme an, dass sie seine Mutter ist. Sie wohnt nicht weit weg von mir.
All das weiß ich, weil ich eine „Abwesenheitsbestätigung“ der „JA f. Jgdl. Gerasdorf“ in einem Hinterhof gefunden habe. Samt Foto des jungen Mannes. All das lässt das Kino in meinem Kopf flimmern. In der ersten Szene öffnet die Mutter die Tür. Er steht vor ihr und schaut verlegen auf den Boden, wagt es nicht, seine Mutter mit seinen dunklen Augen anzusehen. Diese zögert erst, nimmt ihren Jungen dann aber doch in die Arme. Nächste Szene: Sie essen schweigend in der engen Küche. Zu hören ist nur das Kratzen des Bestecks auf den Tellern. Schnitt. Er liegt rauchend auf dem Bett in seinem billig möblierten Zimmer. Und so weiter…
Wütend macht mich, dass dieser Zettel nicht irgendwo gelegen ist, sondern neben Containern auf denen in großen Lettern „DATENSCHUTZ“ und „AKTENVERNICHTUNG“ zu lesen ist. Was ich über diesen jungen Mann und seine Mutter weiß, geht mich eigentlich nichts an. Das Kino in meinem Kopf ist einer Schlamperei zu verdanken.
Ich habe den Zettel in diesen Container geschmissen. Die Geschichte werde ich nicht los. Darum teile ich sie hier.
 
dreiundzwanzig
 
Aktenvernichtung

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