Lady Gaga: Der Pop-Spieß um 180 Grad gedreht

Ich war am Samstag bei einer Darbietung des wahrscheinlich einzigen echten Popstars unter 30: Stefani Joanne Angelina Germanotta, besser bekannt unter dem Namen Lady Gaga. Die schafft heute noch etwas, was früher im sich ständig selbst erneuernden Pop-Zirkus zur Tagesordnung gehörte: ein Phänomen sein, das die Massen in seinen Bann zieht. Das ist mittlerweile schon recht schwierig geworden. Die Musik spielt immer mehr im Long Tail. Das Prinzip Superstar funktioniert heute – wenn überhaupt noch – in vergleichsweise geringem Ausmaß. Kollektive Hysterie wie bei der ersten Amerika-Tournee der Beatles? Heute undenkbar. Seit den 80ern zerbröselt das Bild des Pop-Superstars kontinuierlich. Die Großen von damals sind entweder tot (wie Michael Jackson) oder machen sich nur mehr lächerlich (wie Madonna oder Bono Vox bzw. U2). Sie sind Dinosaurier.
Ich trauere diesem Zustand nicht nach. Mich haben die Ränder des Musikuniversums schon immer mehr interessiert als dessen leuchtenden Zentren. Am Samstag habe ich meiner Tochter einen Wunsch erfüllt. Sie ist 10, war noch nie auf einem so großen Konzert und schon gar nicht auf einem von einer „so berühmten“ Künstlerin. (Von den 80ern weiß meine Tochter ja nichts.) Und ich geb’s zu: Ich war neugierig. Wollte verstehen, was die Faszination von Lady Gaga ausmacht, ist sie doch die einzige, die noch annähernd so leuchtet wie einst die Pop-Dinosaurier. Aber auch nur, indem sie den Pop-Spieß um 180 Grad dreht.
Mit den Ansagen zwischen bombastisch inszenierten Teilen der Show (es widerstrebt mir, hier von Songs zu schreiben) lieferte sie selbst die Interpretationshilfe zu dem Phänomen Lady Gaga: „I am you!“ Und damit meint sie nicht, dass sie das Spiegelbild der vielen mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen im Publikum darstellen will. Pickel, Plattfüße, Schwierigkeiten mit Eltern und Lehrern, Versagensängste – das ist nicht Lady Gaga. Sie ist vielmehr all das, was diese Menschen an Phantasien und Träumen mit sich herumtragen. Mit ihren Musikern, Tänzern, Choreografen, Bühnenbildnern, Roadies und und und stellt sie sich als Projektionsgefäß dafür zur Verfügung. Wenn sie von Inspiration spricht, so ist damit keine künstlerische Inspiration gemeint, sondern das Auffangen dessen, was Menschen gerne hören oder sehen wollen. Das setzt Lady Gaga um. Gegen Ende des Konzerts meinte sie: „I don’t speak Austrian, but I can feel you.“
Da ist es nur logisch, dass das inhaltlich nicht besonders anspruchsvoll ist oder dass da in irgendeiner Weise neue künstlerische Wege eingeschlagen werden. (Bei den Dinosauriern war das noch der Fall. Auch wenn man die Musik von Michael Jackson, Madonna, Prince Musik nicht mag, muss man ihnen zugestehen, dass sie doch Künstler waren bzw. sind, die an der Weiterentwicklung musikalischer Ausdrucksformen gearbeitet haben.) Nicht so Lady Gaga. Sie greift auf das zurück, was schon einen Platz in den Köpfen der Menschen hat, was schon millionenfach funktioniert hat und arrangiert es neu. Dieses Prinzip wendet sie auf der musikalischen Ebene genauso an wie bei der Show. Ein Schloss als Bühnenbild, Elemente aus Märchen, aus Action-Filmen, viel Erotik, ein wenig Sado-Maso. Alles da, was in anderen Zusammenhängen schon einmal erfolgreich war. Alles da, was so oder so ähnlich Teil der Phantasie ihres Publikums ist. Weitgehend mehrheitsfähig und umgesetzt mit größter handwerklicher Präzision.
Und im Zentrum des Spektakels leuchtet Lady Gaga. Ein Mensch, der man so oder so ähnlich selbst gern sein möchte: Talentiert, schön und selbstbewusst. Sie zieht ihr Ding durch und was andere darüber denken: „I don’t give a fuck!“ Damit kann man sich doch identifizieren. Oder etwa nicht? Das wichtigste Element des Phänomens Lady Gaga ist aber, dass die bunt schillernde Figur es schafft, als Mensch anschlussfähig zu bleiben. Der Trick dazu heißt „Respekt“. Ihr Engagement für die Queer-Szene steht stellvertretend für jede andere Minderheit oder für die vielen kleinen Dinge, wegen derer sich die Menschen im Nachteil fühlen: Pickel, Plattfüße oder die Schwierigkeiten mit Eltern und Lehrern. Das ist der Job von Lady Gaga. Der hat nichts mit Kreativität oder künstlerischem Genie zu tun. Auf jeden Fall ist es Schwerstarbeit, dem Publikum eine derartige Show zu bieten. Und dafür lassen sich Lady Gaga, die Tänzer, Bühnenbildner und Roadies auch bezahlen. „Thank you for buying a ticket to this show!“ Das ist Pop 2012.

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