Leer

„Wir sind leer. Endgültig / vollständig / leer.“ – Egal ob diese Textzeile jetzt literarisch besonders wertvoll  ist oder nicht, sie hat sich vor vielen, vielen Jahren in mein Hirn gefressen. In das Hirn eines jungen dummen Buben, der sich nichts so sehr wünschte als der engen Welt zu entkommen in die er da hineingeboren war. Musik war damals das Tor nach draußen, in eine Welt in der man die Luft atmen konnte ohne das Gefühl zu haben an katholischer Kleinkrämerei ersticken zu müssen. Ja, so dachte ich damals in den späten 80er Jahren im Mühlviertel. Der Höhepunkt der Wochentage war die Ö3 Musicbox (damals noch um 15.00 Uhr). Manche dieser Sendungen haben wir auf Kassette aufgenommen, uns die dann gegenseitig geborgt und sogar noch kopiert. An unseren selbst gestalteten Abenteuer-Wochenenden gewürzt mit reichlich billigem Alkohol haben wir uns unsere Kassetten unzählige Male angehört. Schallplatten waren teuer und nur per Mailorder oder im knapp 50 Kilometer entfernten Linz erhältlich. (Wahn und Sinn – wenn das jemand noch was sagt.)
Ich spreche ungern von Liebe. Aber ich habe Musik damals geliebt. Weil sie der wichtigste und unmittelbarste Ausdruck eines schwer zu beschreibenden Lebensgefühls war. Der Rest – die komischen Frisuren, die Lederjacken und mein angewiderter Gesichtsausdruck – war der Musik geschuldet. Ohne Soundtrack hätte es den Film nicht gegeben.
Sobald es mir möglich war, bin ich nach Wien gezogen. Da hat die Musik gespielt. Und wie! Paradiesische Zustände für einen wie mich. Konzerte, Plattengeschäfte, Lokale, Luft zum Atmen. Musik sammeln, über Musik reden, sich gegenseitig auf den neuesten heißen Scheiß aufmerksam machen, in der (Musik-)Geschichte weiter zurück gehen, die Zukunft suchen. Ich habe dabei fast kein Genre ausgelassen. Das klingt jetzt alles ein wenig schwülstig. War aber so.
Dann habe ich einen Schritt zur Seite gemacht. Habe meinen Fokus auf Beruf, Karriere, Familie und all das gelegt, von dem ich glaubte, dass es dazu gehört. Dass es so sein muss. Lange hat das nicht gehalten und ich habe begonnen, mich wieder mit Musik zu beschäftigen (ironischerweise war das die Zeit, als man die eigenen vier Wände nicht mehr verlassen musste um neuen heißen Scheiß zu entdecken). Und dann kam The Gap. Stefan Häckel, heute der Obercoole bei VICE, damals Arbeitskollege, schrieb für das Heft, das ich – wie etliche andere Magazine auch – abonniert hatte. Ich erklärte, dass ich das mit dem Schreiben eh kann und dass ich eine große Liebe und eine große Sammlung… Reichte schon. Ich war dabei und es war gut. Das war vor sechs Jahren und ein paar Zerquetschten.
Ich habe nichts mehr genossen, als einmal pro Monat nach der Arbeit in die Favoritenstraße (den Redaktionssitz von The Gap) zu fahren und mir Rezensions-CDs zu holen. Das war fast so wie noch früher als ich mein ganzes Erspartes im Wahn und Sinn oder im Rave Up für Vinyl ausgegeben habe. Jetzt bekam ich Sachen, deren Release-Datum ein paar Wochen in der Zukunft lag und das sogar gratis. (Na gut, manchmal habe ich auch im Netz nichts für Musik bezahlt.)
So sind hunderte Musikrezensionen entstanden. An manchen habe ich lange gefeilt, andere habe ich schnell hingerotzt. Manche halte ich wirklich für gelungen, bei anderen habe ich das Gefühl, dass es ein profunder Auskenner besser getroffen hätte als ich Liebhaber.
Und jetzt bin ich leer. (Die Textzeile ist übrigens von den Einstürzenden Neubauten; Abstieg und Zerfall vom Album Kollaps, 1981.) Nicht wirklich leer, aber ich mag nicht mehr über Musik schreiben. Ich habe das Gefühl, alles schon mal gehört zu haben und ich muss mich quälen, etwas neues darüber zu schreiben. Es gibt nichts mehr, was mich im Herzen trifft. Nicht falsch verstehen: Es gibt heutzutage mehr gute Neuveröffentlichungen denn je. Die Bandbreite und Qualität musikalischen Schaffens waren noch nie so groß wie heute. Kein Kulturpessimismus. (Zumindest nicht an dieser Stelle.) Musik ist nur nicht mehr so relevant für mich. Sie hat nicht mehr diese Funktion in meinem Leben.
Also habe ich heute beschlossen, nicht mehr über Musik zu schreiben. Da dieser Text ohnehin schon recht schwülstig ist, setze ich gleich noch eins drauf: Die Liebe zur Musik ist immer noch da. Ungebrochen. Aber es drängt mich nicht mehr, neue Musik zu entdecken und schon gar nicht habe ich das Bedürfnis, anderen Menschen Musik zu empfehlen. Ich bin leer, aber die Musik ist immer noch da.
Danke an The Gap! Es war eine wundervolle Zeit. (Ich schreib ja gerne über andere Themen für Dich. Über Musik sollen andere schreiben.)
Nachsatz: Beim Schreiben habe ich Poison Idea gehört.

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